Editorial
Dominik Landwehr und
Philippe Schnyder von Wartensee
Popmusik ist mitten in der Gesellschaft angekommen. Sie tönt aus dem Kinderzimmer, dröhnt vom Pausenplatz und hat die Altersheime erreicht. Sie füllt Stadien, Lifte, Autos, Kopfhörer, Clubs, Wohnzimmer, Shops, Übungsräume. Wir hören Englisch, Mundart oder Bum-Tz-Bum-Tz. Wenn sie nicht schon da ist, tragen wir sie mit dem Smartphone hin. Erstaunlicherweise lieben wir sie immer noch.
Wir bewundern Beyoncé auf Youtube, hören Bob Dylan auf Vinyl und kaufen Tickets fürs Montreux Jazz Festival. Derweil heisst der Deutschschweizer Star der Gegenwart Bligg. Er ist zum Musikprofi geworden in einer Zeit, die inhaltlich wenig, aber technisch viel Neues gebracht hat. Die digitale Revolution hat in Form von MP3, illegalen Tauschbörsen wie Napster und Streamingdiensten die Popmusik als erste Kultursparte durchgeschüttelt und entmaterialisiert. So ist die Innovation der Musik treu geblieben, auch wenn keine neuen Akkorde und identitätsstiftenden Frisuren erfunden worden sind. Den Ton gibt heute nicht mehr das kritische Musikgenie, sondern das verknüpfende Internet an. Und das Netz ist noch nicht fertig gewoben.
Vor zwanzig Jahren haben wir beim Migros-Kulturprozent begonnen, das Popmusikfestival m4music auszuhecken. Es sollte ähnlich dem Internet ein Treffpunkt sein, der Grenzen überwindet, Wissen verbreitet, zum Networking einlädt und Bands eine Plattform bietet. Wir haben bei ausländischen Festivals spioniert, Brücken in die Romandie geschlagen und 1998 das erste «M for Music» in Zürich auf die Beine gestellt. Inzwischen ist m4music zum Zentrum unserer Förderaktivitäten im Bereich Pop geworden. Wichtigstes Ziel damals wie heute: die fortschreitende Professionalisierung der Schweizer Popmusikszene mit Projekten und Finanzierungsbeiträgen zu unterstützen. Einige Themen haben uns immer besonders interessiert: der Wandel, den die Musik durch das Internet erfährt, die Förderung von Strukturen bei den Indielabels oder der Zugang zu neuem Publikum dank Videoclips und dem Vermittler Swiss Music Export. Dieses Interesse spiegelt sich auch in der vorliegenden Publikation «Time Is Now», die wir nicht nur als handfestes Buch veröffentlicht haben, sondern auch als frei zugängliche Website.
Obwohl Popmusik auch in der Schweiz im Leben so vieler Menschen eine wichtige Rolle spielt, existieren zum Thema erstaunlich wenig Publikationen mit hiesigem Absender. Das hat uns motiviert, einige der führenden Popmusikjournalistinnen und -journalisten anzufragen, ausgewählte Themen zu beleuchten und dabei folgende Fragen im Hinterkopf zu behalten: Wie ist der Zustand der Schweizer Popmusikszene? Was zeichnet sie aus? Wo liegen Potenziale und Chancen? Was braucht es, damit sich diese entwickeln können und besser wahrgenommen werden?
Die Leserin oder der Leser vermisst vielleicht den einen oder anderen grossen Namen. Das hat drei Gründe. Erstens: Diese Publikation fokussiert auf die Gegenwart – Darstellungen zur Geschichte der Schweizer Popmusik existieren ja bereits einige. Zweitens: Der Förderschwerpunkt des Migros-Kulturprozent liegt auf einheimischer Musik, neuen Talenten und unabhängigen Strukturen – und damit also auf Künstlern ausserhalb des breiten Mainstreams. «Time Is Now» ist kein Verzeichnis von Schweizer Popbands, sondern eine reflexive Momentaufnahme, wobei auch Musikerinnen und Musiker so oft wie möglich selber zu Wort kommen, so in den beiden längeren Interviews mit Fabian Chiquet, Jimi James und Brandy Butler. Joy Frempong, Marcel Blatti und Tobias Jundt leben in Berlin und im Gespräch erzählen sie, was es für Vorteile hat, ausserhalb der Schweiz zu leben. Und wie erging es der Nachwuchshoffnung Faber auf seiner Tour durch Deutschland? Carole Gröflin hat den Sänger begleitet. Adrian Schräder schliesslich leuchtet in eine weitgehend unbekannte Nische des Schweizer Pops und zeigt, welche Rolle Rap bei Künstlern mit Migrationshintergrund spielt. Pop wird hier zu einem Medium der Identitätsstiftung. Dass diese Szene noch nicht auf dem Radar der Integrationsförderung aufgetaucht ist, macht sie erst recht authentisch.
Doch wie wurde Pop überhaupt allgegenwärtig in der Schweiz? Christoph Fellmann beschreibt diese Transformation der Popmusik von der Subkultur zur Volkskultur. Der Preis: Eine gewisse Gleichförmigkeit. Medien haben in der Geschichte der Musik immer eine entscheidende Rolle für die Verbreitung gespielt, angefangen von der Erfindung der Schallplatte über die 45er-Single und die CD bis zum Siegeszug des Internets. Drei Medienthemen werden in diesem Buch vertieft: Ane Hebeisen spricht die veränderte Rolle des Radios an, das auch heute noch eine wichtige Rolle für die Promotion von Pop spielt. Martina Kammermann beschreibt den Siegeszug der digitalen Musik, die angesichts der kleinen Einnahmemöglichkeiten heute vor allem die Konsumenten und Plattformbetreiber glücklich macht. Mehr denn je ist der Videoclip ein zentrales Marketinginstrument. Lena Rittmeyer zeigt in ihrem Beitrag, wie souverän Bands dies heute pflegen. Die Bedeutung von professionellen Videoclips ist auch ein Beispiel, das zeigt, wie stark die Popmusik heute Teil eines kreativen Netzwerkes ist. Zu diesem zählen neben Grafikern und Webdesigner auch die Veranstalter und Vermittler, beispielsweise Clubverantwortliche und Festivalorganisatoren. Sie kommen im Text von Renzo Wellinger zu Wort.
In kaum einer Kultursparte ist der Graben zwischen der deutschen und der französischen Schweiz kleiner als in der Popmusik – auch wenn die Dynamik zur Zeit vor allem in eine Richtung geht: Christophe Schenk zeigt, wie Popmusiker aus der Romandie ihren Blick nach Aussen richten müssen; Auftritte in der deutschen Schweiz stehen ganz oben auf der Prioritätenliste. Eine Aussenperspektive ganz anderer Art nimmt der Auslandschweizer Hanspeter Künzler ein, der seit den Siebzigerjahren als Musikjournalist in England lebt: London ist trotz der Attraktivität Berlins weiterhin das Traumziel vieler Schweizer Popmusiker. Dabei dürfte sich die eine oder andere Band aber überschätzen, denn wer jenseits des Kanals bekannt werden will, muss zu härtester Knochenarbeit bereit sein.
«Time Is Now» ist auch keine Enzyklopädie des Schweizer Pop. Die Texte im Anhang sollen das Buch dennoch zu einem kleinen Nachschlagewerk machen mit einem Glossar, das die wichtigsten Begriffe erklärt, den wichtigsten Zahlen und Fakten zum Schweizer Popmarkt, einem Literaturverzeichnis sowie kurzen Abriss des Musikfestivals m4music, dessen Geschichte zusammenfällt mit der Professionalisierung der Schweizer Popszene und ihrer Transformation durch die Digitalisierung.
Die Autorinnen und Autoren von «Time Is Now» sind alle Kenner der Schweizer Popszene. Ihre Beschreibungen und Analysen fallen meist kritisch, sicher erfrischend aus. Kritik, mitunter auch heftig vorgetragen, hat die Popmusik bis heute begleitet. Kaum ein Argument, das nicht gegen sie vorgebracht wurde. Waren es zunächst ästhetische Argumente, so wurden es später ökonomische: Hat eine Band Erfolg, so ist der Vorwurf, «kommerziell» zu sein, nicht weit. Kontroversen zeugen aber von Leben, und sie sind allemal besser als Gleichgültigkeit. Ja, wir wünschen uns manchmal gar, dass ein solch kritischer Geist die gesamte Kulturberichterstattung durchfliessen würde.
Das Migros-Kulturprozent fördert Popkultur seit Langem als wichtige Kultur- und Lebensform in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Mit dieser Publikation dokumentieren wir Haltungen, die in der heutigen Zeit massgebend und relevant sind. Als privater Kulturförderer sehen wir uns durchaus in einer Vorreiterrolle, wenn es darum geht, Themen, die das gesellschaftliche Miteinander betreffen, zu fördern und – wie die vorliegende Publikation zeigt – zu dokumentieren.
An wen richtet sich «Time Is Now»? Ganz einfach, an alle Musikinteressierten. An jene, die täglich Popmusik hören ebenso wie jene, die das nicht tun. «Time Is Now» will auch mehr sein als ein Buch zur Schweizer Popmusik: Es ist eine Momentaufnahme einer Szene, die in der heutigen Gesellschaft eine tragende Rolle spielt: vielfältig und kontrovers, leidenschaftlich und poetisch, grenzüberschreitend und vital, utopisch und zukunftsweisend. Kurz, let the Music play!
Zürich im Sommer 2016